Die Revolution fiel aus, aber sie hat zumindest ein Manifest hinterlassen. Vor gut zehn Jahren kündigte Joshua Quittner im Magazin HotWired einen völlig neuen Journalismus (Way New Journalism) an. Irgendwo in den Weiten des Cyberspace könne man vielleicht schon übermorgen den neuen Journalisten begegnen; ihre Form sei die kurze, die kompakte Erzählung und der fortlaufend aktualisierte, gleichsam organisch pulsierende Bericht, angereichert mit Hypertext-Links, Audio- und Videoeinspielungen und dem fortwährenden Feedback der Leser. „Ich spreche“, so Quittner, „über eine grundlegende Wandlung im Journalismus selbst, in der Art der Berichterstattung und Nachrichtenpräsentation. Diese Wandlung wird viel einschneidender sein als alles, was wir seit der Geburt des Journalismus jemals gesehen haben; vielleicht sogar revolutionärer als die Anfänge des Journalismus selbst.“ Wer die Revolutions-Rhetorik abzieht, kommt zu dem Befund: Die journalistischen Darstellungsformen wandeln sich – im Netz und anderswo; man versucht, aus dem Korsett strikt linear organisierter Präsentation auszubrechen, arbeitet stärker modular, eröffnet neue Möglichkeiten der Interaktion – und hat insgesamt unendlich viel Platz für Experimente zur Verfügung, mit denen sich allerdings gegenwärtig noch wenig Geld verdienen lässt. Zunehmend verändern Suchmaschinen die Recherche und prägen, was wir als relevant wahrnehmen und für wichtig halten. Mittlerweile beeinflussen manche War- und Weblogs auch etablierte Publizisten und (über den Umweg der traditionellen Medien) gelegentlich die Öffentlichkeit. Nach amerikanischem Vorbild bilden sich gegenwärtig Formen der Laien-Berichterstattung heraus.
Aber auch diese Variante des basisdemokratischen, nicht selten ziemlich enthemmten Schreibens ist sicher kein völlig neuer Journalismus, sondern eher eine alternative Publizistik, die ihr Medium gefunden hat. Auch hat der Autor des Manifests, Joshua Quittner, seine Ankündigung der großen Revolution längst öffentlich widerrufen („Ich habe mich geirrt“) und festgestellt: „Die große Begeisterung ist vorbei.“ Diese Ernüchterung eines Online-Enthusiasten ist symptomatisch. Sie markiert eine Phase der Normalisierung und ist ein guter Anlass für eine weniger globale Bestandsaufnahme. Diese liefern 19 junge Journalisten und Studierende des Hamburger Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft. Sie sind – nüchterne Statistiken, Aufnahmegerät und Notebook im Gepäck – losgezogen, um zu klären, ob es zumindest Spurenelemente eines neuen Journalismus im Netz gibt, ob und in welcher Form Wikis, Weblogs und freie Software das publizistische Gewerbe verändern. Sie haben auf ihren Recherchereisen Netzflaneure der ersten Stunde und Medienphilosophen getroffen; sie sind prominenten Bloggern und Trendforschern begegnet, haben Kommunikationswissenschaftler und Wikipedianer interviewt, Journalistenausbilder und Chefredakteure befragt, die in der beständig fluktuierenden Welt der Datenströme um Glaubwürdigkeit und Marktanteile kämpfen. Entstanden ist aus diesen Gesprächen und Begegnungen ein breites Spektrum der Erkenntnisse und Einsichten, die – bei allen Differenzen im Detail – eines gemeinsam haben: Die unkritische Euphorie ist verflogen, die apokalyptische Schwarz-Malerei verblasst.
Die Behauptung, der gegenwärtige Journalismus werde schon übermorgen durch smarte Blogger und bürgernahe Recherche-Genies ersetzt, wird kaum noch im Ernst vertreten, auch vom Entstehen des ganz neuen und endgültig multimedialen Journalismus ist nicht mehr die Rede. Auf den folgenden Bildschirmseiten findet sich eine umfassende Momentaufnahme in Form eines Interviewmagazins, ein Kaleidoskop der präzisen Beobachtungen aus dem Online-Universum, dessen Bewohner und Zaungäste längst (wieder) in der Wirklichkeit angekommen sind. Finanziell unterstützt wurden die Trendrecherchen von der Hamburger Universität, dem Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft und dem Verein ProJournal e.V. Wolfgang Krischke – als freiberuflicher Journalist u.a. für die F.A.Z. und Die Zeit tätig – hat als Textchef die Manuskripte auf dem Weg zur Publikation begleitet; Dirk Hoffmann und Wolfgang Müller, die kreativen Köpfe der Design-Agentur artificialduck, haben ein minimalistisches Layout entwickelt, das bewusst an die (bis auf weiteres fortbestehende) Gutenberg-Galaxis und eine stille, von Sprache und Text faszinierte Kultur des Buches erinnert. Am Ende einer drei Monate dauernden Arbeit des gemeinsamen Reflektierens und Diskutierens, des Schreibens und Umschreibens bleibt der redlich erschöpften Redaktion nur noch die Hoffnung auf geneigte Lektüre. Denn online gelten die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie in verschärfter Form: Was nicht wahrgenommen wird, existiert nicht.
…Bernhard Pörksen über die Revolution, die ausfiel.